Mehr als Erinnern ... !

Anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz hat die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken eine Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz und Krakau organisiert. Für die 550 jungen Menschen stand dabei nicht die politische Inszenierung, sondern die Bildungsarbeit im Mittelpunkt.

 

Auch wenige Tage nach Ende der Fahrt überwiegt die Nachdenklichkeit. Nach einer intensiven Woche voller Workshops, Gesprächsrunden, Vorträge, Stadtführungen und Besuchen der Gedenkstätte in Auschwitz und Auschwitz-Birkenau müssen wir alle noch zahlreiche Eindrücke verarbeiten. Es ist normal, einen Gedenkstättenbesuch in Auschwitz mit mehr Fragen im Kopf zu verlassen, als wir es betreten haben. Denn der Abschluss einer Gedenkstättenfahrt stellt ja nicht das Ende des Bildungsprozesses über das Geschehene dar.

Gerade um diesen Bildungs- und Denkprozess ging es – und geht es uns Falken. Deswegen hat eine bundesweite Arbeitsgruppe bereits vor knapp zwei Jahren die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung der Fahrt begonnen. Dafür wurden die Gruppenhelfer*innen in Seminaren geschult und dafür haben sich alle Teilnehmenden der Fahrt in ihren Gliederungen vor Ort bereits im Vorhinein inhaltlich mit Nationalsozialismus und Holocaust auseinandergesetzt.

Die Gedenkstättenfahrten der Sozialistischen Jugend stehen in einer langen Tradition. 70 Jahre sind seit der Herrschaft des Nationalsozialismus vergangen und fast 60 Jahre ist es her, dass die Falken als erster deutscher Jugendverband eine Gedenkstättenfahrt organisiert haben, um der Opfer des Faschismus zu gedenken. Angesichts des vorherrschenden gesellschaftlichen Klimas der Verdrängung und des Schweigens schlugen dem Verband damals Misstrauen und Anfeindungen in der Presse entgegen. Damit ist heute zwar nicht mehr zu rechnen. Dennoch haben wir diese Fahrt keineswegs einfach aus Tradition unternommen.

Gedenken und! Rassismus bekämpfen

Ein Blick auf die aktuelle Gesellschaft genügt, um zu erkennen, dass antifaschistische Bildungsarbeit weiterhin nötig ist. Aktuelle Phänomene wie die Aufklärungsmisere nach den NSU-Morden, Pegida, AfD, die Ausschreitungen, der Hass und die Hetze, die etwa Geflüchteten in Deutschland entgegenschlägt, sind lediglich die offensichtlichsten Ausdrücke des gesellschaftlichen Rassismus in allen Teilen der Gesellschaft. Allein die Verbreitung menschenverachtender, rassistischer, antisemitischer und antiziganistischer Einstellungen verdeutlicht die Notwendigkeit, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten. Das Wissen über die Verbrechen der Nazis und die bis heute währenden Kontinuitäten darf nicht verloren gehen!

Während sich also an der Aktualität und Notwendigkeit von Gedenken in 70 Jahren nichts verändert hat, darf dies keineswegs für die Art und Weise gelten, wie dieses Gedenken umgesetzt wird. Masseninszenierungen oder schlichte Betroffenheitspädagogik lehnen wir ebenso ab wie staatstragende Gedenkfolklore, die entweder zum hohlen Ritual verkommt oder dazu dient, heutige politische Interessen zu rechtfertigen. Diese Scheinheiligkeit wird aktuell besonders deutlich, wenn sich die Bundesrepublik im 70. Jahr der Befreiung vom Nationalsozialismus für ihre gelungene Aufarbeitung lobt und gleichzeitig die noch immer offenen Reparationsforderungen für Zwangsarbeiter oder Griechenland ignoriert.

Neue Erinnerungsformen gesucht

Das „Damals“ zu verstehen, um im Heute handeln zu können, Mechanismen zu erkennen und daraus Alternativen erwachsen zu lassen, das ist Ziel unserer Erinnerungsarbeit. Erinnern, an das was gewesen ist, darf uns jedoch nicht beruhigen über das, was heute ist. Gedenken zur Legitimation für die heutige Gesellschaft darf uns nicht ausreichen. Unser Gedenken muss den Blick bewahren für die zerstörerischen Zusammenhänge von Ausgrenzung und Ausbeutung, von Menschenverachtung- und -vernichtung.

Es gilt neue Formen des Erinnerns zu finden, um jungen Menschen Zugänge zu eröffnen und die eigenständige Entwicklung eines kritischen Bewusstseins zu ermöglichen. Nicht nur die gesellschaftliche Realität hat sich verändert. Ebenso gibt es neue Perspektiven und Erkenntnisse über den Holocaust, den Nationalsozialismus und dessen Kontinuitäten. Deswegen haben wir ein neues Konzept für Gedenkstättenfahrten der Falken erarbeitet mit dem Ziel, den aktuellen Stand der Forschung über den Nationalsozialismus mit unseren pädagogischen und politischen Ansprüchen an Gedenkstättenpädagogik zu verknüpfen.

Blumen niederzulegen war einer der Wege des Gedenkens, für die sich die Teilnehmenden entschieden haben.

 

Gedenken in Kleingruppen

Dabei darf das Gedenken keine Pflicht sein. Gedenken ist ein freiwilliger Prozess, der nur erfolgen kann, wenn man weiß, um was es geht. Uns ist es wichtig, dass alle ihren Weg zu den Opfern selbst entwickeln können und erst nach dem Lernen, mit dem Versuch des Verstehens das eigentliche Gedenken kommt. Vor dem Gedenken muss daher Wissen vermittelt werden. Dafür war uns der intensive Vorbereitungsprozess für diese Fahrt so wichtig, darum waren die zahlreichen Gruppeneinheiten und die über 50 ehrenamtlich gestalteten Workshops in dieser Woche so zentral. Um diesen beeindruckenden Austausch zu gestalten, war die Größe der Veranstaltung unerlässlich.

Für den tatsächlichen Gedenkakt hingegen haben wir nicht auf die politische Symbolik von Menschenmassen gesetzt, sondern das Konzept des dezentralen Gedenkens entwickelt. Die 550 Teilnehmenden konnten in Kleingruppen für sich entscheiden, wie sie erinnern wollen. Dafür haben sie sich viele verschiedene Formen des Gedenkens überlegt und durchgeführt: Von kleinen Texten und Gedichten die verlesen oder Blumen die niedergelegt wurden, bis zu individuellen Momenten des Schweigens oder auch der Auffassung, dass die politische Bildung in Workshops bereits die individuell passende Form des Gedenkens gewesen sei.

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung!“ Im Sinne dieses berühmten Adorno Zitats war die diesjährige Gedenkstättenfahrt der Falken ein klares Signal gegen jegliche Schlussstrichdebatte. Gleichzeitig haben wir jedoch auch klare Alternativen zum offiziellen, staatlichen Gedenknationalismus aufgezeigt. Trotz oder gerade wegen all der offenen Fragen, die wir mit nach Hause genommen haben.

13.04.2015
Josephin Tischner und Immanuel Benz,

Bundesvorsitzende der SJD – Die Falken

Auch eine Falken-Gruppe aus Lübeck war mit dabei!

Sechs Jugendliche aus Lübeck nahmen an der Gedenstätten-fahrt teil und kamen mit tiefen Eindrücken zurück. Sie arbeiteten in verschiedenen Arbeitskreisen und Workshops zu unterschiedlichen Aspekten menschlicher Gemeinschaft mit und besuchten auch das ehemalige jüdische Viertel Kazimierz (Foto), in dem einmal rund 70.000 Juden wohnten. Heute gehören zur jüdischen Gemeinde nur noch 120 Menschen.